Zum 25. Jubiläum von Kunsthandwerk in Seeon  –  Gedanken zum Kunsthandwerk

von Prof. Dr. Thomas Raff, Kulturhistoriker

 

Liebe Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerker,

liebe Gäste des Seeoner Kunsthandwerkermarktes!

Wir sind hier umgeben von Kunsthandwerk, diesen schönen Markt gibt es nun schon seit 25 Jahren, und er erfreut sich – sowohl bei Ausstellern als auch bei Besuchern – der größten Beliebtheit. Was sollte ich Ihnen da als Kunsthistoriker viel Neues verkünden?

Vielleicht ein paar Worte darüber, was ein „Kunsthandwerker“ überhaupt ist, warum dieses Wort erst und ausgerechnet im 19. Jhd. erfunden wurde und welche Rolle die Kunsthandwerker einst und heute für die Gesellschaft spielen. Wobei ich mich vor allem auf die Situation in Deutschland beschränken möchte und die anderen europäischen Länder nur vergleichsweise heranziehe.

Wie war es in jenen fernen Zeiten, z.B. im Mittelalter, als jene Menschen, die wir heute als „Kunsthandwerker“ bezeichnen, auch schon so ähnlich gearbeitet haben, aber noch nicht so genannt wurden? Unter welchem Begriff wurden die Töpfer oder Taschen-macher, die Glasbläser oder Goldschmiede zusammengefasst? Ich glaube, dass man damals nicht viel darüber nachgedacht hat. Es hat niemanden so sehr interessiert. Wichtiger war die Frage, welche Tätigkeit unter welche Zunft einzugliedern war.

Aber es ist zu betonen, dass man auch schon im Mittelalter einige der produzierenden Menschen eher als „Handwerker“, andere eher als „Künstler“ empfand. Letztere lassen sich am besten daran erkennen, dass sie ihre Werke signierten. So viel zum Mittelalter.

Seit der Renaissance gab es eine neue Tendenz: Die „Künstler“ wollten sich deutlicher als zuvor von den „Handwerkern“ unterscheiden. Der „Künstler“ in diesem modernen Sinne stellte andere Anforderungen an sich selbst: Er sollte möglichst ein Universalgenie sein, also eben nicht nur bildhauern oder nur malen oder nur Gebäude entwerfen kön-nen, sondern möglichst in allen diesen Tätigkeiten versiert sein und dazu noch Gedichte schreiben und naturwissenschaftliche Forschung betreiben. Musterbeispiele für diesen Künstlerbegriff sind Leonardo da Vinci und Michelangelo. Aber auch noch der Barock-künstler Gianlorenzo Bernini erfüllte dieser Kriterien: Er war Bildhauer und Architekt – und malte auch noch und schrieb Theaterstücke. Wenn ein Handwerker als „Künstler“ im damaligen Sinn gelten wollte, musste er sich eine gewisse Allgemeinbildung zulegen, und er musste auf mehreren Gebieten tätig sein..

In der Mitte des 19. Jhd. gab es nochmals einen tiefen Einschnitt: die Industrialisierung. Sie betraf zunächst weniger die sog. „hohe Kunst“ (obwohl den damaligen Malern die neu erfundene Photographie durchaus zu schaffen machte), sondern mehr die Hand-werker. Viele Produkte der Handwerker konnten nun durch Maschinen schneller, billiger und in gewisser Weise sogar perfekter hergestellt werden. Es erhob sich die Frage, ob man gestaltende Handwerker überhaupt noch benötigte. Bezeichnenderweise wurden damals die alten Zünfte aufgehoben.

Es gab aber schon bald Gegner der industriellen Fertigung. Vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jhd. wurden Einzelanfertigungen geschätzt, so entstanden etwa im Rahmen großer Bauvorhaben Aufträge an Kunstschmiede, an Glasmaler, an Keramiker usw.

Zugleich dominierte damals das Stilideal des „Historismus“. Man wollte also bewusst nicht „modern“ sein, sondern nahm sich die früheren Stilepochen, vor allem die deut-sche Renaissance und das Barock,  zum Vorbild, eben solche Epochen, in denen alles noch „mit der Hand gearbeitet“ wurde. Um solche Vorbilder für die Auszubildenden wirklich vor Augen zu haben, wurden in vielen Städten Museen gegründet, die dann   den neuen Begriff „Kunst-Handwerk“ oder „Kunst-Gewerbe“ im Namen führten. An der Fassade des alten Münchner Nationalmuseums (heute „Völkerkundemuseum“ bzw. „Museum Fünf Kontinente“) steht zentral der von König Max II. geprägte Ausspruch. „Meinem Volk zu Ehr und Vorbild“.

Zunächst dachte man bei Kunsthandwerk vor allem an diese historisierenden Arbeiten. Aber auch sie kamen langsam in Verruf, der Historismus wurde zunehmend abgelehnt.    Der kurz vor 1900 fast explosionsartig ausbrechende „Jugendstil“, benannt nach einer modischen Zeitschrift, war eine, wenn auch nur kurzfristige, Gegenbewegung. Plötzlich wollten viele „Künstler“ – Maler, Bildhauer, Architekten – auch „Kunsthandwerker“ sein. Man suchte die Einheit und das Zusammenwirken der Künste, was zu Gründungen wie der „Wiener Werkstätte“ (1903), dem „Deutschen Werkbund“ (1907) und schließlich sogar zum „Bauhaus“ (1919) führte.

Gerade an der Entwicklung des „Bauhauses“ (1918-1933) zeigt sich deutlich, wo damals die Bruchlinien lagen: die sich durchsetzende Tendenz war „Kunst raus – Industrie-design rein“. Und in dieser Situation befinden wir uns heute noch, und in verstärktem Maße. Dabei spreche ich noch nicht einmal von der gerade stattfindenden Digitalisie-rung, sondern nur von dem tendenziellen Auseinanderfallen von Entwerfen (Design) und Machen (Handwerk, Kunsthandwerk).

Nach unserem heutigen Verständnis ist ein „Kunsthandwerker“ ein Designer, der seine Entwürfe selbst, mit eigener Hand anfertigt. Als Entwerfer für Gegenstände, die dann industriell hergestellt werden, wird der Kunsthandwerker sicher bestehen bleiben. Und es ist nicht das schlechteste, wenn ein „Designer“ aus dem Handwerk kommt. Denn nur dann kann er beurteilen, welchem Material was zuzumuten ist.

Ein nicht zu übersehendes Problem aber ist, dass die Produkte des Design (z.B. Gläser, Porzellan, aber auch Handtaschen oder Schmuck) künstlerisch immer anspruchsvoller und technisch immer besser werden. Durch die in gewisser Weise altertümliche und jedenfalls umständliche Produktionsweise (man denke etwa an die Silberschmiede) haben die Produkte des Kunsthandwerks viel längere Herstellungszeiten und können nicht in so großen Stückzahlen hergestellt werden. Die Folge davon ist ein höherer Preis für das Einzelstück.

 

In unserer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft ist es, so gesehen, erstaunlich, dass überhaupt noch jemand mit eigener Hand einen Silberbecher aufzieht und treibt. Und ebenso erstaunlich, dass jemand bereit ist, dafür einen so hohen Preis zu bezahlen.

Aber es gibt die Kunsthandwerker – dieser Markt ist der schönste Beleg dafür – und sie sind in den meisten Fällen glücklich mit ihrer Tätigkeit. Immer wenn ich mit Kunsthand-werkern über solche Fragen spreche, wird mir versichert, dass diese Tätigkeiten das Erfüllendste sind, was sich die Betreffenden vorstellen können.

Tag für Tag sitzen sie an ihren Werkbänken und Arbeitstischen, werkeln vor sich hin, haben wenig Interesse an Marketing und ertragen es nicht nur mühelos, sondern fast stolz, wenn sie sehen, was in anderen Berufen verdient werden kann.

Die Vorteile sind denn auch nicht zu übersehen, nur sind sie in erster Linie keine finan-ziellen Vorteile.

So arbeiten die selbständigen Kunsthandwerker wahrscheinlich mehr Stunden als Angestellte oder Beamte.  Aber: Sie können sich die Arbeitszeiten aussuchen und ihr Leben freier gestalten.

So verdienen Kunsthandwerker in der Regel weniger als Industriearbeiter und haben auch eine niedrigere Rente im Alter. Aber: Sie leiden nicht unter dem, was Karl Marx „Entfremdung der Arbeit“ genannt hat.

Über die gesellschaftliche Stellung der Kunsthandwerker kann ich mir keine richtige Meinung bilden. Ich habe den Eindruck, dass sie ziemlich anerkannt sind, vielleicht auch ein bisschen beneidet. Denn viele Menschen, die Tag für Tag in ihre Arbeit gehen und nur auf die letzte Arbeitsstunde der Woche oder den letzten Tag des Arbeitslebens warten, beschäftigen sich in der Freizeit, in der Rente mit Kunst und Kunsthandwerk.

Es fällt mir auch auf, dass viele Industrien damit werben, ihre Produkte würden „in Handarbeit“ hergestellt, seien es die Produkte der Firma „Hermès“ oder die wirklich teuren Autos. Die Firma „Manufactum“ trägt das „Handgemachte“ schon im Namen.

Und es gibt industriell gefertigte Produkte, die nachträglich durch Hämmern oder andere Techniken zu „Handarbeit“ veredelt werden.

Ich muss zum Schluss kommen. Unsere Gesellschaft kann sich glücklich preisen, dass sie in ihrer Mitte Menschen hat, die sich mit Liebe und Geduld, mit Fachkenntnis und Improvisationsbereitschaft, mit Konsumverzicht und Stolz darum kümmern, dass wir nicht nur von Maschinenprodukten umgeben sind. Und das ist in einer immer virtueller werdenden Zeit wichtiger denn je.

„Handwerk hat goldenen Boden“, hat man früher immer gesagt. „Kunsthandwerk“ hat vielleicht nicht gerade „goldenen Boden“, aber es steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Ich wünsche allen Kunsthandwerkern Erfolg, Anerkennung und Selbstbewusstsein.